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Die Polyvagal - Theorie von Stephen Porges

Kennen Sie die Tage, an denen jede Herausforderung zum Kampf wird, jeder Kollege oder jede Kollegin zum Konkurrenten oder zur Konkurrentin. Oder Sie fühlen sich „reif für die Insel“ und wollen einfach nur weglaufen, sich unter Ihrer Bettdecke vergraben oder gleich im Erdboden versinken.

Vor die gleiche Herausforderung gestellt, geht es Ihnen an anderen Tagen blendet. Alle negativen Gefühle scheinen wie weggeblasen. Wieso ist das so?

 

Der Dorsale Vagus: reagiert auf Gefahr mit Shut Down oder Freeze

Unser autonomes Nervensystem hat sich evolutionär in drei Stufen entwickelt und organisiert. Die älteste Strategie, mit der wir auf Unsicherheit und Gefahr reagieren, ist der „Shut Down“, das „Einfrieren“.
Vor ungefähr 500 Millionen Jahren waren unsere Organismen - gemessen an späteren Formen -  nicht sehr komplex. Daher war es möglich, unsere Überlebensfunktionen fast auf Stillstand zu reduzieren. Diese frühen Organismen haben ihre Systeme herunter reguliert und Bedrohungen, wie Nahrungsmangel, Kälte etc. einfach „ausgesessen“. Verantwortlich dafür war der Vagus Nerv, im dorsalen, also hinteren Teil des Hirnstammes entspringt.
Dieser dorsale Ast des Vagusnerves existiert heute noch, ist Teil unseres parasympatischen Nervensystems und steuert die Organe unterhalb des Zwerchfelles an. In einem balancierten - homöostatischen - Zustand ist er für die Verdauung zuständig.

 

Der Sympathikus: reagiert auf Gefahr mit Kampf oder Flucht

Als Wirbeltiere, im Übergang vom Reptil zum Säugetier, wurden wir größer und stärker; unsere Organismen komplexer. Ein „Herunterfahren“ des Organismus wäre in dem Maße nicht mehr möglich gewesen, da - unter anderem - die notwendige Sauerstoffversorgung unseres nunmehr größeren Gehirnes nicht mehr gewährleistet wäre.
Aus diesem Grund hat sich vor etwa 400 Millionen Jahren der sympathische Teil unseres autonomen Nervensystems entwickelt.
Der Sympathikus ist ein Spinalnerv, der den Organismus früher Reptilien mobilisiert hat, um bedrohlichen Situationen mit Kampf oder Flucht zu begegnen.

Heute mobilisiert uns der Sympathikus immer noch und löst Kampf- oder Fluchtverhalten aus. Jedoch existiert auch eine jüngste Entwicklungsstufe unseres autonomen Nervensystems, den ventralen - vorderen - Ast des Vagusnervs. Wenn dieser die Kontrolle hat, dann hilft uns der Sympathikus, den täglichen Herausforderungen mit der notwendigen Energie zu begegnen, ohne gleich in einen Zustand von Kampf und Flucht zu geraten.

 


Der Ventrale Vagus:  gewährleistet soziale Interaktion und lässt uns zunächst „verhandeln“

Für die sich entwickelnden Säugetiere wurde sozialer Zusammenhalt wichtig. Aus der Achse „Gesicht - Atmung - Herzaktivität“, die für den Vorgang des Säugens wichtige Basis ist, hat sich unser System sozialer Interaktion entwickelt. Dieses System wird vom jüngsten Zweig des Vagus Nerv kontrolliert, dem Ventralen Vagus. Er entspringt im Nucleus Ambiguus, einem Hirnkern, der im vorderen (ventralen) Teil des Hirnstamm liegt.
Gemeinsam mit vier anderen Hirnnerven (V, VII, IX, XI) steuert er über motorische Nervenfasern alle Organe an, die wir für zwischenmenschliche Interaktion benötigen:
1) die Muskulatur des Gesichtes und des Kopfes, damit unsere Mimik
2) die Resonanzräume unserer Stimme
3) den Kehlkopf und damit unsere Stimme selbst
4) das Gehör: ob wir die Menschliche Stimme von ihrem akustischen Hintergrund abheben oder nicht
5) Atmung
6) Herzfrequenz

Nur wenn der Ventrale Vagus unser autonomes Nervensystem kontrolliert, sind wir in der Lage zu kommunizieren und sozial zu interagieren. Der Sympathikus sorgt für die notwendige Energie, und der dorsale Vagus steuert unsere Verdauung.
Fühlen wir uns sicher und sind wir in Balance, sind wir in der Lage, innerhalb eines Tages mehr oder weniger mühelos durch die drei Zustände unseres autonomen Nervensystems zu navigieren, uns selbst zu regulieren, und im Austausch zu stehen mit unserer Umwelt und den Menschen, die uns umgeben.
Es ist einer der zentralen Aussagen der Polyvagal Theorie, dass nur in diesem Zustand Entwicklung, Gesundheit, Heilung und Lernen möglich ist.

 


Neurozeption

Der Vagus Nerv besteht zu achtzig Prozent aus sensorischen Fasern. Sie transportieren  Informationen aus den Organen zum Hirnstamm. Durch diese Feedback-Schleifen und die Verbindung zu unseren Sinnesorganen erkennt das autonome Nervensystem, ob „organisch“, situativ, oder zwischenmenschlich Gefahr besteht, oder Sicherheit und Wohlbefinden herrscht.

Haben wir ein Trauma erlebt, sind wir in einer Art dorsal gesteuertem Zustand hängen geblieben. Wirkliche Kommunikation, Öffnung für andere, ist uns nahezu unmöglich gemacht. Stehen wir unter Dauerstress, leben wir in konstantem Kampf- oder Fluchtverhalten.
In beiden Zuständen neigen wir dazu, Signale falsch zu interpretieren. Wir erkennen Gefahren nicht als Gefahren, oder deuten Signale der Sicherheit als Signal der Unsicherheit.   

 

 

Die Konsequenzen der Polyvagal Theorie für Ihre eigenen Entwicklung, oder die Ihrer SchülerInnen, StudentInnen, oder MirabeiterInnen.

Es ist also der jeweilige Zustand unseres - evolutionär bedingt - hierarchisch aufgebauten autonomen Nervensystems, der laut der Polyvagal Theorie des amerikanischen Verhaltensneurobiologen Stephen Porges unsere Sicht auf die Welt, unser Gegenüber oder uns selbst prägt.

 


Signale der Unsicherheit

Ortet unser autonomes Nervensystem Signale der Unsicherheit oder gar der Gefahr, schaltet unser Organismus auf Verteidigung. Latenter Stress hält uns in diesem Zustand der Unsicherheit gefangen. Unsere gesamte Energie fließt in Kampf, Flucht oder Shut Down. Anspannung, Angstgefühle, Nervosität, Konkurrenzgefühle oder Antriebslosigkeit sind die Folge. Kommunikation, Wachstum, Entwicklung oder Lernen sind nicht mehr möglich.

 


Signale der Sicherheit

Empfängt unser autonomes Nervensystem Signale der Sicherheit, dann entspannen wir uns. Unser Nervensystem wechselt in den Zustand sozialer Interaktion. Wir fühlen uns sicher. Unsere Energie fließt in Mimik, Gestik, Körpersprache, Stimme, Atmung, Zuhören und einen Zustand der Selbst-Bewusstheit. Wir kommen mit uns selbst, unserem Gegenüber und unserer Umwelt in Kontakt. Austausch, Lernen, Kreativität und Entwicklung werden möglich.

 


„Zwischen Impuls und Reaktion liegt die Freiheit des Menschen!“

Viktor Frankl spricht davon, dass zwischen Impuls und Reaktion die Freiheit des Menschen liegt. Das bedeutet, wir sind unserem autonomen Nervensystem nicht willenlos ausgeliefert. Jederzeit können wir überprüfen, in welchem autonomen Zustand wir uns gerade befinden. Wenn nötig, sind wir in der Lage, uns durch einfache Übungen gezielt zu regulieren, um aus dem Zustand der Verteidigung und des Schutzes wieder in den produktiven und kreativen Bereich sozialer Interaktion zu gelangen.
Dann begegnen wir nicht nur unserer Umwelt und unserem Gegenüber wieder offen, wohlwollend und mit Neugierde - wodurch Entwicklung und Lernen wieder gewährleistet sind -, sondern wir strahlen dieses Gefühl der Sicherheit auch aus. Wir übertragen es - auf unbewusster Ebene - auf unser Gegenüber und schaffen so die Basis produktiver Gespräche.

Stephen Porges nennt diesen Vorgang der Synchronisation unserer autonomen Nervensysteme Co-Regulation. Das Streben nach sozialer Interaktion ist ein biologischer Imperativ des modernen Menschen. Es ermöglicht Entwicklung, Wachstum und Lernen. Das Gefühl der Offenheit für die Kommunikation mit anderen Menschen liegt jeder wohlmeinenden und kreativen Zusammenarbeit zugrunde.

 


Was mich als Trainer und Coach an der Polyvagal-Theorie fasziniert

Einfachste Körper- und Stimmübungen helfen, nicht nur die eigene Präsenz weiterzuentwickeln und unsere Instrumente der Kommunikation - Körpersprache und Stimme - zu schulen, sondern auch den Zustand unseres autonomen Nervensystems so zu regulieren, dass wir persönliche Herausforderungen als Herausforderungen betrachten, und nicht als Anlass für Kampf oder Flucht. So gelingt es uns, an unseren Herausforderungen zu wachsen, und nicht zu zerbrechen.

 


Fazit

Das bedeutet, die Arbeit an der Körpersprache - Gestik, Mimik, Aufrichtung, Blickkontakt -, an der Stimme - Resonanz und Ausdruck - und am Sprechen - Lautbildung mit Zunge, Lippen und Gaumen - hilft uns nicht nur, auf einer bloß technischen Ebene unsere Kommunikationsfähigkeiten zu verbessern, oder unsere Präsenz zu steigern. Sondern gleichzeitig arbeiten wir - „betrachtet durch die Polyvagale Brille“ - an der Regulation unseres autonomen Nervensystems und des autonomen Nervensystems unseres Gegenübers. Wir schaffen damit die neurologischen Vorraussetzungen für Kommunikation, Wachstum und Lernen, und in medizinischen und therapeutischen Berufen, für Gesundheit und Heilung.

 

Mehr dazu ….

in einem kleinen Online Vortrag, den ich für einige Mitglieder der überregionalen Stimmtrainerplattform www.stimme.at halten durfte.
Hier noch abschließend der Link zu diesem Vortrag:


https://www.youtube.com/watch?v=NXJTQ6SVEYA